Ingrid Rathgeber

Begegnungen: Die Helferin   

Seit 1998 holt Ingrid Rathgeber eine stets wechselnde Gruppe von 35 Kindern und deren Betreuer aus Tschernobyl für vier Wochen zur Erholung an die Fulda in ein früheres Ausflugslokal. Rathgeber ist eine Unternehmerin, die es auch im Ruhestand als Gründerin des Vereins „Hilfe für Kinder in Not nach Tschernobyl" nicht lassen kann, etwas zu unternehmen. Sie organisiert Reise und Unterkunft, spricht Firmen an, die Geld und Lebensmittel spenden. 20 000 Euro kostet ein solcher Aufenthalt. Die Kinder sind nicht akut krank, aber haben schon Schlimmes hinter sich, kämpfen gegen Hirn- und Hodentumore, kommen teils aus unbeschreiblich traurigen Verhältnissen. Die Menschen in den verseuchten Regionen, berichtet Rathgeber, hätten vielfach den Mut verloren, seien depressiv, kränklich, die Männer impotent.

Rathgeber kennt ihre Kinder alle, die sie im Lauf der vergangenen sechs Jahre nach Deutschland geholt hat. Rund drei Wochen im Jahr reist sie selbst durch Weißrußland und die Ukraine, um sich alles anzusehen, was sie unterstützt. Geld gibt sie nicht blindlings; sie will sich von jedem Projekt, vor allem aber von jedem Menschen, mit dem sie zusammenarbeitet, überzeugen. Sie gibt sogar den Anstoß zu Unternehmensgründungen, organisiert aber auch Rollstühle und kauft Medikamente in Weißrußland. Rathgeber hilft, Familien-Waisenhäuser aufzubauen, um Kinder vor den staatlichen Waisenhäusern zu bewahren, organisiert die medizinische Betreuung in Ost und West, knüpft Kontakte zu Blinden in Deutschland, um Selbsthilfegruppen zu gründen, weil im verseuchten Gebiet um Tschernobyl offenbar immer mehr junge Menschen erblinden.

Die Hilfe für die Menschen in Weißrußland und der Ukraine beschäftigt Rathgeber jeden Tag. Sie sammelt etwa 60 000 Euro im Jahr an Spenden ein. Rathgeber spricht nicht Russisch. Aber wenn sie mit den Kindern zusammen ist, wird klar, was es bedeutet, wenn sie sagt: „Ich verstehe Russisch, wie ich Musik verstehe." Dank erfuhr die Unternehmerin nun auch von der Plansecur-Stiftung. Die gemeinnützige Stiftung, die sich christlichen Werten verpflichtet hat, verlieh ihr den diesjährigen Förderpreis im Wert von 20 000 Euro. Er wird zur Hälfte in bar ausgezahlt. Die andere Hälfte floss in einen Film über das Projekt, der helfen soll, weitere Mittel zu beschaffen.

Das Talent zu unternehmerischer Selbständigkeit ist Rathgeber mit auf den Weg gegeben worden. Ihre Familie treibt seit jeher Handel. Eine Wurzel der Familie reicht nach Greiz in Thüringen. Von dort machten sich die Tuchhändler auf, 1876 ein Geschäft in Kassel zu gründen. Mit dem Planwagen wurde die Ware von Ostthüringen damals nach Hessen gefahren. Kassel ist auch die Geburtsstadt von Rathgeber, ihr Geburtsdatum ist der 18. April 1937. Schon früh half sie im Laden mit. Sie besuchte das Wirtschaftsgymnasium, absolvierte Auslandsaufenthalte, ging auch in England zur Schule. Ihr Mann kam aus Schlotheim beim thüringischen Mühlhausen ins nahe Kassel.

Sein Familienunternehmen hatten die Kommunisten verstaatlicht. Aus der Gesellschaft wurde schließlich Sponeta, der große Sportartikelhersteller der DDR. Angekommen im Westen, baute unter schwierigen Bedingungen der Unternehmer Karl Rathgeber mit seiner Frau in Speele bei Kassel einen neuen Betrieb auf. Aus militärischen Tarnnetzen fertigten sie Fußballtore, Tennisnetze oder Schaukelseile. 1961 brannte der Betrieb ab. Wie Rathgeber in Erfahrung brachte, wurden damals rund zehn Betriebe, die Unternehmer nach ihrer Enteignung in der DDR im Westen neu gegründet hatten, in Brand gesetzt. Rathgeber blieb trotz solcher Rückschläge mit Leib und Seele

Kauffrau, erlebte das Auf und Ab, reiste mit den Spielwaren, die ihr Unternehmen „emwe" fertigte, um die ganze Welt, organisierte Ausstellungen in Japan und Amerika.

Sieben Jahre sind nun vergangen, seit ihr Mann gestorben ist. Den Betrieb hat sie dem Sohn übergeben, dem sie noch mit Rat zur Seite steht. Sie selbst verwaltet weiteren Familienbesitz. Vor allem aber hat sich Rathgeber in den Dienst der Menschen gestellt.

Frankfurter Allgemeine Zeitung Seite 16 / Montag 7. Juli 2003, Nr. 154

CLAUS PETER MÜLLER

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